Rafael Caro Repetto

Wie bin ich in der Ethnomusikologie gelandet?

Ich werde nie vergessen, als ich zum ersten Mal eine Live-Aufführung von jingju sah, was im Deutschen gewöhnlich als Peking-Oper bekannt ist. Ich war völlig verwirrt! Ich konnte nichts von dem verstehen, was auf der Bühne vor sich ging: die ohrenbetäubenden Gongs und Becken, das durchdringende Timbre der Instrumente und Stimmen, die Kostüme, die Schminke, die Art zu sprechen, die Art sich zu bewegen... Wie kann das überhaupt „Oper“ sein? Voller Frustration schaute ich mich nur um und entdeckte, dass eine alte Dame, die nicht weit von mir entfernt saß, vor Rührung weinte! Wie kann es sein, dass dieselbe visuelle und klangliche Darstellung eine Person zu Tränen rührt, während sie in mir nichts weiter als Ratlosigkeit auslöst? Ich beschloss, dass ich verstehen musste, was dort geschah.

Die Aufführung fand in der Konzerthalle der Universität Peking statt, wo ich Chinesisch studierte. Nach Abschluss meines dortigen Studiums beschloss ich, in China zu bleiben, um zu versuchen zu verstehen, wie Musik im jingju das Publikum bewegen kann. Diese Suche führte mich zu den musikwissenschaftlichen Fakultäten der Minzu-Universität von China (Peking) und des Konservatoriums von Shanghai. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass das Studium dieser Tradition aus der eigenen Kultur heraus nicht meinen Bedürfnissen entsprach, da meine Lehrer auf ein implizites Wissen zurückgreifen, zu dem ich keinen Zugang hatte. Da wusste ich, dass ich die methodologischen Werkzeuge brauchte, die die Musikethnologie für das Studium einer Musiktradition bietet. Und dieses Bedürfnis führt mit an das SOAS (School of Oriental and African Studies, University of London), wo ich meinen Master-Abschluss in Ethnomusikologie erwarb. Dort habe ich gelernt, dass keine Musik isoliert von der Kultur, aus der sie stammt, verstanden werden kann, und dass man nur durch Gespräche mit den Menschen, die sie praktizieren und genießen, und sogar durch das Üben und Lernen, sie selbst zu genießen, zu einem Verständnis gelangen kann.

Ich konnte diese Methoden während meiner Doktorarbeit in die Praxis umsetzen, indem ich an der National Academy of Chinese Theatre Arts (Peking) Feldforschung betrieb und versuchte, einige Grundlagen der Aufführung zu erlernen. Glücklicherweise konnte ich für meine Doktorarbeit am CompMusic-Projekt der Musiktechnologiegruppe der Universitat Pompeu Fabra (Barcelona) teilnehmen, und dort erfuhr ich, wie nützlich computergestützte Methoden für die Musikforschung sind, um ethnografische Ansätze mit statistischen Informationen zu ergänzen und zu erweitern. Seitdem wende ich solche Methoden in meiner Forschung an, wobei ich sowohl qualitative als auch quantitative Analysen kombiniere.

Jingju Unterricht beim Schauspieler Li Zhengping an der Nationalen Akademie der chinesischen Theaterkünste (Beijing, Juni 2016)

Jingju Unterricht beim Schauspieler 李正平 Li Zhengping an der Nationalen Akademie der chinesischen Theaterkünste
(Beijing, Juni 2016)

Rafael Caro spielt qin beim 57en Treffen der London Youlan Qin Society (London, 25 März 2012)

Qin spielen beim 57en Treffen der London Youlan Qin Society
(London, 25 März 2012)

Auf meinem Weg zum Verständnis der jingju-Musik in ihrer breiteren kulturellen Bedeutung konnte ich mit anderen Musiktraditionen in Kontakt treten. Besonders fasziniert hat mich schon immer die Welt der qin-Zither, ein Musikinstrument, das nicht gespielt wird, um Ideen und Emotionen mit einem Publikum zu teilen, sondern zum Selbstgenuss und zur spirituellen Selbstpflege. Im Rahmen des CompMusic-Projekts wurde ich auch in die indische Kunstmusik und die arabisch-andalusische Musik eingeführt, die beide in letzter Zeit Teil meiner Forschungsinteressen geworden sind. Dank der Instrumente, die mir die Ethnomusikologie, aber auch die Musiktechnologie bieten, setze ich das Studium dieser Musiktraditionen fort, mit dem Ziel zu verstehen, wie und warum Menschen aus so unterschiedlichen Kulturen Musik machen.