FWF - Virtuelles Gamelan Graz: Erschließen impliziten musikalischen Wissens (Gerd Grupe)

Ziel des Projekts war die Untersuchung von Möglichkeiten, wie implizites Wissen über musikalische Konzepte und aktuelle Aufführungspraxis klassischer zentraljavanischer Gamelanmusik (karawitan) mit Hilfe computergestützter Hörversuche erschlossen werden kann. Die wichtigsten Forschungsansätze waren erstens die Art und Weise, wie eine bestimmte Komposition in einer Live-Aufführung umgesetzt wird (garap), und zweitens die Bewertung der spezifischen Stimmung einzelner Gamelan-Sets (embat). Im Laufe des Projekts wurde versucht, eine spezielle Software zu programmieren, die sowohl ein Ensemble von Gamelanmusikern als auch den Klang verschiedener Gamelaninstrumente und Trommeln mit fester Tonhöhe emuliert.

Trotz einiger Fortschritte bei der Umsetzung der musikalischen Regeln und Aufführungsprinzipien des karawitan und der Möglichkeit,  Klang und Stimmung virtueller Gamelan-Instrumente zu kontrollieren, ließ sich die Entwicklung einer operationellen, autonomen Software-Implementierung innerhalb des Zeitrahmens des Projekts nicht verwirklichen. Daher konzentrierten sich die Bemühungen im Bereich der musikalischen Regeln auf die Vorbereitung computergenerierter Audio-Beispiele, in die das vorhandene explizite Wissen manuell eingearbeitet wurde, um mit einer Bewertung durch javanische Experten auf implizite Annahmen zurückzuführende Mängel aufzudecken, die bei unseren virtuellen Wiedergaben nicht berücksichtigt worden waren. Hinsichtlich embat wurden veröffentlichte Messungen von 12 traditionellen (6 sléndro und 6 pélog), zwei amerikanischen (nur Intonation) und von zwei experimentellen Gamelans (äquidistant) ausgewählt, was etwa 1360 digitale Samples ergab, die berechnet und manuell nachgestimmt werden mussten. Audio-Beispiele von 18 traditionellen Kompositionen aus beiden Stimmsystemen (laras sléndro und pélog) und ihren jeweiligen Modi (pathet) wurden drei renommierten, erfahrenen Musikern und Dozenten an der Akademie der Künste (ISI) in Surakarta vorgestellt (Bp. Suraji, Bp. Suyoto und Bp. Prasadiyanto). Ihre Kommentare zu beiden Aspekten, d.h. Wiedergabe der Stücke und Klang der verschiedenen virtuellen Gamelans mit Berücksichtigung ihrer Stimmung, waren sehr aufschlussreich. Ein Analyse-durch-Synthese-Prozess, der nur explizite und hauptsächlich allgemeine Prinzipien der Aufführungspraxis einbezog und implizite Annahmen oder spezifisches Wissen über einzelne Stücke weitgehend außer Acht ließ, konnte die holistischere Sichtweise dieser Kunst versierter karawitan-Musiker zeigen, in der „korrekte“ Noten genauso wichtig sind wie – oder manchmal sogar weniger wichtig sind als ­­– andere Faktoren wie idiomatisch adäquates Timing, Phrasierung, Verzierungen, Artikulation und Dynamik sowie kontextbezogene Überlegungen.

Auch wenn die meisten dieser Erkenntnisse für Gamelan-Experten nicht überraschend sein mögen, so unterstreichen sie doch, dass an das computergestützte Emulieren einer karawitan-Darbietung in einer viel umfassenderen Weise herangegangen werden muss als nur mit der Verfeinerung „struktureller“ Paradigmen auf der Ebene einer musikalischen Grammatik. Das Anhören verschiedener Stimmungen im direkten Vergleich zu deren Bewertung erwies sich als förderlich für einen tiefgreifenden Diskurs über ansonsten eher vage oder abstrakt bleibende Themen. Trotz dieser Mängel im Bereich der Musikinformatik hat das Projekt erfolgreich gezeigt, dass Hörversuche mit lokalen Experten, bei denen musikalische Parameter wie melodische Gestik, Timing, Stimmung usw. individuell gesteuert werden können, ein nützliches Instrument zur Erforschung musikalischer Konzepte sein können und insbesondere erschließen können, inwiefern aktuelle Aufführungspraktiken von – meist impliziten – Normen geprägt sind.

Wichtigste Mitarbeiter

ISI Surakarta, Java
Bp. Suraji: leitender Musiker,  Dozent am  ISI
Bp. Suyoto: leitender Musiker,  Dozent am  ISI
Bp. Prasadiyanto: leitender Musiker,  Dozent am  ISI

Southbank Centre London
Sophie Ransby, PhD: Gamelan-Beraterin, Logistik
John Pawson, MA: Gamelan-Berater, Übersetzungen
Jonathan Roberts, MA: Gamelan-Berater, Transkriptionen, Übersetzungen
Charles Matthews, PhD: interaktive Gamelan-Software

Universtät für Musik und darstellende Kunst, Graz
Babak Nikzat, PhD: Aufnahmen, Video-Schnitt, computergestützte Analyse

Universität der Künste, Berlin
Dominik Hildebrand Marques Lopes, MA: SuperCollider-Programmierung

Besonderer Dank gilt den Mitgliedern der Southbank Gamelan Players, die für uns gespielt haben.