Über Ethnomusikologie

Die Ethnomusikologie beschäftigt sich mit Musik-, Tanz- und Theaterperformances der Welt in ihren sozialen und kulturellen Kontexten. EthnomusikologInnen wenden in erster Linie ethnographische Methoden an, unabhängig davon, ob der analytische Schwerpunkt auf Aufführungsdetails oder auf kulturellen Kontexten und sozialen Bedeutungen liegt. Ethnomusikologie ist eine dynamische Disziplin, die sich fortwährend erweitert und neue Ideen und Praktiken entwickelt.

Ethnomusikologie wurzelt in der Zeit der Aufklärung und der europäischen Expansionsphase und war anfangs vergleich- und sammlungsorientiert. Das Interesse (vorwiegend städtischer) europäischer Komponisten und Folkloristen an der Sammlung und Dokumentation von Liedern und kulturellen Artefakten des ländlichen Europas wuchs während der nationalistischen Bewegungen und dem Streben nach Selbstbestimmung im 19. Jahrhundert und breitete sich in der Folge in ähnlicher Weise auf kolonisierte Gebiete der ganzen Welt aus. 1885 prägte der österreichische Musikwissenschaftler Guido Adler den neuen Begriff „vergleichende Musikwissenschaft“, um die vielfältige Musikforschung jener Zeit zu beschreiben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten der österreichische Musikwissenschaftler Erich Moritz von Hornbostel und der deutsche Musikpsychologe Carl Stumpf die Berliner Schule für vergleichende Musikwissenschaft, ein lose verbundenes Kollektiv von Wissenschaftlern, die verschiedene Musiken der Welt mit zahlreichen analytischen Ansätzen (z.B. musikalisch, akustisch, psychologisch und historisch) erforschten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg tauchten ethische Fragen hinsichtlich einer uneingestandenen westlichen Voreingenommenheit in den analytischen Ansätzen und der etischen Perspektive der vergleichenden Musikwissenschaft auf. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts begannen europäische und amerikanische Musikwissenschaftler mit der Neuorientierung ihrer Annahmen und Ansätze, bezogen emische („Insider“) Perspektiven und relativistische Interpretationen mit ein und versuchten, Ethnozentrismus (so weit wie möglich) durch eigene Feldforschung auszuräumen. Der niederländische Musikwissenschaftler Jaap Kunst prägte das Wort Ethnomusikologie erstmals 1950; die Vorsilbe „Ethno“ hat seitdem für Debatten gesorgt. Trotz des Unbehagens, dass diese Vorsilbe in der Fachwelt immer wieder auslöst, wird der Begriff heute zunehmend als Hinweis auf die ethnographischen Methoden verstanden und nicht als abwertende „Ethnisierung“ nicht-westlicher Musiken, die einst den primären Forschungsschwerpunkt der aufstrebenden Disziplin darstellten. (Die allmähliche Aufteilung der verschiedenen Musikforschungsansätze in Subdisziplinen an verschiedenen Orten der Welt nach Ende des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass der Begriff „Musikwissenschaft“ das Studium der westlichen Kunstmusikgeschichte im engeren Sinne bezeichnet und nicht die allgemeine wissenschaftliche Forschung über Musik aus allen Teilen der Welt).

Im Laufe ihres Bestehens hat die Ethnomusikologie viele bedeutende und weltweite intellektuelle Entwicklungen und Tendenzen mit einbezogen, von Strukturalismus, Funktionalismus, Marxismus und Dekonstruktionismus bis hin zu Gender-, Reflexivitäts- und Identitätsforschung, Postkolonialismus, kognitiver Forschung und computergestützten Ansätzen. Ethnomusikologie ist stark interdisziplinär geprägt und führt Forschungs- und Interpretationsstrategien aus verschiedensten Bereichen zusammen, wie Anthropologie, Kognitionswissenschaften, Kulturforschung, vergleichende Forschung, Choreomusikologie, Tanzanthropologie, Forschung der Ökologie und Indigene, Wirtschaftswissenschaften, Humangeographie, medizinische Forschung, Musiktheorie und -analyse, Musikwissenschaft, Performance Studies, Ritualforschung und Sound Studies.

Die anhaltende Innovationsfähigkeit und die intellektuelle Beweglichkeit der Ethnomusikologie sind je nach Perspektive die größten Stärken der Disziplin, oder ihre größten Schwächen. Die Society for Ethnomusicologyin den Vereinigten Staaten nennt einige wichtige Ideen, die die große Gemeinschaft der verschiedenen WissenschaftlerInnen, die sich ganz oder teilweise als EthnomusikologInnen bezeichnen, verbinden:

          1. Sie sehen Musik aus einer globalen Perspektive (die alle geographischen Gebiete und Musikarten umfasst)
          2. Sie verstehen Musik als soziale Praxis (sie betrachten Musik als menschliche Tätigkeit in Verbindung mit den sozialen und kulturellen Kontexten)
          3. Sie beschäftigen sich mit einer Kombination aus ethnographischer, analytischer und/oder historischer Forschung über Musik.

Jeder Mensch an jedem Ort der Welt kann sich mit ethnomusikologischen Themen und Konzepten beschäftigen. Diese werden regelmäßig in die Musik- und Kulturlehrpläne von Vor-, Grund- und Sekundarschulen auf der ganzen Welt aufgenommen, oft ohne Identifizierung als Ethnomusikologie an sich, sondern eher als „Erleben und Lernen der Musik und Kulturen der Welt“. Ethnomusikologie als akademische Disziplin ist in erster Linie ein fortgeschrittenes Forschungsgebiet und die meisten EthnomusikologInnen erwerben in diesem Bereich Abschlüsse der Master- und Doktoratsstufe. EthnomusikologInnen arbeiten als ForscherInnen auf der ganzen Welt. Sie arbeiten auch als ForscherInnen und PädagogInnen an Universitäten und im gesamten öffentlichen und privaten Sektor, in Museen, Archiven, Unternehmen, Stiftungen und NROs, in öffentlich und privat finanzierten Forschungs- und Unterstützungsprojekten von lokalen Gemeinschaften. EthnomusikologInnen waren oft maßgeblich an der Bereitstellung akademischer Unterlagen zur Unterstützung des Rechts von Indigenen auf Landanspruch und auch an der Erhaltung und/oder Entwicklung nachhaltiger Kontexte für gefährdete Musikkulturen beteiligt.

Einige Anregungen zur weiteren Lektüre finden Sie in der Bibliothekssammlung des Instituts:

Barz, Gregory and Timothy Cooley. 2008 (and forthcoming). Shadows in the Field:  New Perspectives for Fieldwork in Ethnomusicology. Oxford and New York: Oxford University Press.

Berger, Harris and Ruth. M. Stone. 2019. Theory for Ethnomusicology: Histories, Conversations, Insights. Abingdon and New York: Routledge.

Grupe, Gerd. 2015. ‚Comparative (Ethno) Musicology: On the Cross-cultural Comparison of Musical Concepts and Performance Practices. Transgressions of a Musical Kind. Festschrift for Regine Allgayer-Kaufmann on the Occasion of her 65th Birthday, edited by Anja Brunner, Cornelia Gruber and August Schmidhofer. Düren: Shaker, 13-22.

_______2014. ‘Ethnomusikologie – what else? Die Musikforschung 67: 393-397.

Nettl, Bruno. 2015. The Study of Ethnomusicology: Thirty-three Issues and Concepts, 3rd edition. Urbana-Champagne: University of Illinois Press.

Rice, Timothy. 2014. Ethnomusicology: A Very Short Introduction. Oxford and New York: Oxford University Press.

Sarkissian, Margaret and Ted Solís. 2019. Living Ethnomusicology: Paths and Practices. Urbana; Chicago; Springfield: University of Illinois Press.

Solis, Ted. 2004. Performing Ethnomusicology: Teaching and Representation in World Music Ensembles. Berkeley: University of California Press.